Vor der Küste Gerimors

Es war der 9. Rabenmond 257 als sich eine Handelskogge der Küste Gerimors näherte, der im Krähennest wachende Matrose lautstark „Land ahoy!“ brüllte und mich damit aus meinem Schlaf riss. Der Morgen war noch früh und der nächtliche Mond am fast sternenklaren Himmel noch in seinen letzten Atemzügen zu sehen. Nur hier und da war ein Wölkchen und der Wind pfiff leise aber eisig über die See und durch mein Haar. Man konnte den Winter schon spüren, der vermutlich nur noch wenige Schritte entfernt war und alsbald auch diese Küste mit seiner weißen aber kalten Pracht bedecken würde.

Die Kogge näherte sich dem mittlerweile in Sichtweite gekommenen Fischerdorf Bajard. Je näher das Land kam, desto höher peitschten die Wellen und je unruhiger wurde das Wasser, was dazu führte, dass die ersten Mitreisenden – sehr zur Belustigung der Schiffscrew – sich an die Reling hingen und die Reste ihres Mageninhaltes den Fischen entgegen würgten. Vermutlich hätte ich mich ihnen angeschlossen, doch mein Schädel brummte noch vom Saufgelage der letzten Nacht, meine Beine waren schwer wie Blei und so eisig der Wind durch mein Gesicht fuhr, so sehr klammerte ich mich an die Felldecke, die mich warm umschloss und versuchte noch einen kleinen Augenblick zu schlummern. Doch nur kurze Zeit später krachte der Anker bereits hinunter und ein Beiboot wurde herab gelassen. Der erste Maat krächzte mit rauer und versoffener Stimme: „Alle Landratten auf’s Beiboot oder ihr segelt noch eine Woche mit uns!“.

Es ist wahrlich unglaublich, ja, fast schon unheimlich, wie schnell ein solcher Satz den Menschen Beine machen kann. Selbst die versoffensten Halunken und Taugenichtse sprangen auf, griffen nach ihren wenigen Habseligkeiten – so sie denn überhaupt welche hatten – und kletterten an einem Netz hinab auf das Beiboot. Ich musste mich wirklich sputen um nicht noch eine Woche auf diesem Dreckskahn zu verbringen und so war ich einer der letzten, die von der Kogge auf das Beiboot kletterten um damit in Bajard an Land zu gehen.

Dabei warfen meine Augen noch einen letzten Blick auf das Deck der Kogge und ich erinnerte mich an meine monatelange Reise mit dem Schiff, an die unzähligen Tavernenbesuche, immer wenn wir irgendwo an Land gingen und wo ich meine Erinnerungen mit viel Hochprozentigem Auszuspülen versuchte. Erinnerungen an ein Leben, welches nicht mehr für mich existiert. An ein Leben in der Markgrafschaft Krähenau. Besser gesagt an ein Leben aus einem Dorf in dieser Markgrafschaft, in welchem ich aufgewachsen war und welches in der Nähe der benachbarten Freiherrenschaft Dragenfurt lag. Meine Eltern waren nicht sehr wohlhabend, doch führten sie ein bürgerliches und durchaus stolzes Leben als Schmied und Schneiderin und sorgten immer gut für mich, ihren einzigen Sohn. Mein Vater erklärte mir den Umgang mit dem Beil und lehrte mich, die verschiedenen Tiere des Waldes und die Bäume zu unterscheiden, so dass ich für unsere Familie immer das Holz im Wald besorgen konnte. Immer, wenn es meine Zeit zuließ, nahm ich etwas von jenem Holz und schnitzte daraus kleine Figuren oder baute mit der Hilfe meines Vaters auch mal eine Bank oder einen Stuhl daraus, welchen meine Mutter als gelernte Schneiderin dann mit Sitzkissen bestückte oder einen Stoffbezug dafür nähte. Es war ein gutes, ein friedliches Leben.

Doch eines Tages überfielen Räuber unser Dorf und töteten alle erwachsenen Männer, die sich nicht ergeben und ihnen anschließen wollten. So auch meinen Vater. Meine Mutter wurde verschleppt und ich sah sie nie wieder. Lediglich den Priester des Dorfes ließen die Räuber mit den Kindern fliehen und dieser brachte mich zu meinem Onkel, einem Fischer, welcher mir die grundlegenden Kenntnisse über die Fischerei beibrachte.

Den Verlust meiner Eltern habe ich nie überwunden und vermutlich war es auch der Grund, welcher mit der Zeit einen Trinker aus mir gemacht hatte, der sich Abend für Abend von einer Taverne zur nächsten schleppte, nur um irgendwo noch einen letzten Schluck für die Nacht zu erhaschen. Eines Tages dann, als die restlichen Goldmünzen sich dem Ende neigten und Fischerboote im Hafen anlegten um Matrosen anzuheuern, nutzte ich die Gelegenheit. Denn wo konnte man einfacher Geld verdienen und dabei viel Saufen, wenn nicht auf einem Kahn voller Fischer? Und so segelte ich los, bis ich eines Tages auf eben jene Handelskogge geriet und damit vor die Küste Gerimors segelte.

Nun sollte sich mein Leben grundlegend ändern. Hier in Bajard nahm meine Zweite Chance, die ich mir selbst gab, seinen Anfang. Ich nahm mir fest vor, keinen Schluck mehr zu trinken, mir anständige Arbeit und Kleidung zu besorgen und ein ebenso gutbürgerliches wie stolzes Leben zu führen, wie es einst meine Eltern taten.